3. Platz

Leiche im Keller

Thomas Eschenweck

„Das liegt ja am AdW! Nicht einmal eine Bahnlinie fährt dahin. Obwohl es eine Bahnhofstraße gibt?“, die Verwunderung war seiner Stimme deutlich anzuhören.

„Wie kommen wir dann nach Groß-Zimmern; ohne Auto?“, fragte Tina ratlos und blickte von ihrem Frühstücksmüsli auf zu Andi, ihrem Lebensgefährten. In ihrer Kindheit hatte Mutter sie immer mit dem Auto hingefahren.

„Wir haben beide kein Auto, Taxi können wir uns nicht leisten und hintrampen klappt bestimmt auch nicht?“, ergänzte sie.

„Es gibt eine Buslinie, die zur Haltestelle Gersprenzbrücke mitten im Ort fährt. Dazu müssen wir aber zweimal umsteigen. Zumindest gelten dafür unsere 9-Euro-Tickets!“

Andi tippte weiter auf seinem Smartphone herum und meinte dann: „Lass uns gleich packen und losgehen. Heute Nachmittag hat die Gemeindeverwaltung bis 18 Uhr geöffnet – Morgen ist geschlossen. Dann haben wir es schnell hinter uns und du hörst auf darüber zu grübeln, welch ein Hexenhaus du da wohl geerbt hast!“

In beunruhigende Gedanken an ihre Kindheit versunken, befolgte Tina den Ratschlag von Andi, der stets der ruhigere überlegtere in ihrer Beziehung war.

Stunden später stiegen Andi und Tina, verschwitzt und durstig aus dem Bus der Linie 672. Sie tranken aus den mitgenommen Flaschen und schulterten dann ihre Rucksäcke. Andi, mit dem Smartphone navigierend wies stumm den Weg. Tina schaute sich mit erstaunten Kinderaugen um. Manche Gebäude und Winkel schienen ihr seltsam vertraut. Weitere bisher verschüttete Erinnerungen an die Ferien ihrer Kindheit, die sie hier bei ihrer Großmutter verbracht hatte, blitzten auf.

Nach einigen Minuten gemächlichen Gehens in der prallen Sonne standen sie vor der Gemeindeverwaltung. Vor dem Betreten setzten sie noch pflichtgemäß ihre Masken auf. Der Flur war leer und eine freundliche Frauenstimme rief sie in eine der Amtsstuben.

Unter oberflächlichem Geplauder über die Hitze und die wohnenswerte Lage von Groß-Zimmern richtete die Dame langatmig die notwendigen Dokumente, die sie Tina zur Unterschrift vorlegte und ging, nachdem Tina unterschrieben hatte, an einen Panzerschrank um ein dickes Kuvert herauszuholen. Da erklang durch die offene Tür des Nebenzimmers eine Männerstimme: „Ist das die Erbin der Irren?“

„Meine Omma war nicht irre!“, rief Tina aufgebracht. „Vielleicht etwas verwirrt und dement, aber nicht irre!“ In ihrer Erregung sprach sie das Wort Oma so aus, wie sie es in der Kindheit getan hatte um ihre Omma von den anderen Omas zu unterscheiden. Die Amtsfrau verdrehte die Augen und rief zischend in den Nebenraum: „Haldemo dei Sabbel, du oalder Blechkopp, mach keen Gedeens!“

Dann an Tina gewandt:

„Entschuldigen Sie die Aussage meines Kollegen, ihre Großmutter galt im Ort als wunderlich, weil sie niemanden in das Haus ließ und immer wieder ‚mer solle die

Dote ruhe lasse‘ sagte. Viele vermuteten bei ihr eine Leiche im Keller. – Natürlich im übertragenen Sinne!“, fügte die Frau hastig hinzu.

Dann händigte sie Tina beflissen das versiegelte Kuvert aus und verabschiedete die beiden höflich, aber hastig.

Wachgerüttelt durch die Aussage des Beamten übernahm Tina die Führung beim Gang zum geerbten Haus. Sie ging nicht direkt dorthin, sondern durch verwinkelte Gassen mit Orten der Erinnerung wie dem „Glöckelchen“ der Ortsbücherei, zu der ihre Omma sie immer mitgenommen hatte, und dann zur Gersprenz. Im Sommer hatte sie hier an dem kühlen Bach gespielt. Doch dann erblickte sie die Weide! Tina blieb Schreck erstarrt stehen. Hier hatte sie erstmals den Schwarzen Mann gesehen!

Andi schaute sie erstaunt an, bemerkte dann ihr geweiteten Augen und die Panik in ihren Gesichtszügen. Wortlos nahm er sie sanft in den Arm und streichelte über ihre Haare. Er kannte solche Schreckzustände bei Tina. Sie kamen bei ihr immer, wenn sie aus Alpträumen erwachte. Nach wenigen Minuten des sanften Zuredens entspannte sich Tina wieder und lief stumm auf direktem Weg zum Haus ihrer Großmutter. Bald erblickten Sie es. Der Garten war verwildert, die Schindeln des Fachwerkbaus moosbesetzt. Lediglich die Zufahrt zur Garage war ordentlich hergerichtet. Von deren Tor konnte man auch über drei Treppenstufen zur Haustüre gelangen. Tina nahm den erhaltenen Schlüsselbund und öffnete damit die Tür. Heiße abgestandene muffige Luft schlug ihr entgegen. Dennoch trat sie ohne Zögern ein und ging zielstrebig in die geräumige Wohnküche. Dort ließ sie sich auf einen der hölzernen Stühle sinken. Alles war unverändert und Tina fühlte sich wieder geborgen, wie einst in ihrer Kindheit!

Während Andi geräuschvoll die Küchenschränke zu durchsuchen begann, er wollte Teller und Besteck für ein gemeinsames Abendbrot herrichten, setzte sich Tina mit dem versiegelten Kuvert an den Küchentisch. Immer wieder, bereits bei der Übergabe in der Amtsstube, klirrte es darin. Tina vermutete weitere Schlüssel, denn an dem überreichten Bund waren zwar zwei Wohnungs- und ein Garagenschlüssel gewesen, doch Tina erinnerte sich vage, dass ihre Oma immer ein Dutzend Schlüssel an einem Bund bei sich getragen hatte. Wo waren diese Schlüssel, für Keller, Auto und so weiter geblieben, wenn nicht in diesem Kuvert?

Mit einem Ruck riss Tina das Kuvert auf. Ein Bund mit mehreren Schlüsseln, alle mit angehefteten Beschriftungen und ein handgeschriebener Brief fielen heraus. Zitternd griff Tina nach ihm und glättete ihn auf dem Küchentisch.

Liebes Tinchen,

wenn du dies liest, bin ich tot und begraben. Leider haben wir uns nicht mehr gesehen. Seit jenem Ereignis hast du mich ja nicht mehr besucht. Ich verstehe dies ja gut, obwohl die Gefahr ja gebannt ist und er dir nie etwas tun kann. Nachdem er aus dem Fenster gestürzt war, habe ich ihn die Schütte hinunter in den Kohlenkeller geschubst und dann im kalten Raum eingesperrt! Seit jener Nacht höre ich ihn immer wieder klopfen, doch er kann nicht mehr herauskommen. Ich habe den Riegel fest verschlossen und den kann der Geist nicht öffnen! Lass ihn dort begraben und erfülle mein Haus wieder mit Leben, am besten mit Kindern, du hast doch einen guten Mann an deiner Seite!

Alles Liebe deine Omma Anna

Bei Tina kamen die Erinnerungen hoch: Der schwarze Mann an ihrem Bett, ihr lautes schreien und dann ihre Omma, die ihm die schwere gusseiserne Bratpfanne von hinten über den maskierten Schädel zog. Er war zurück getaumelt und dabei aus dem offenen Fenster zur Straße hin gestürzt, durch das er wohl eingestiegen war.

Andi stieg die Kellertreppe voran hinab. In seiner rechten Hand hielt er die Taschenlampe, mit der linken hielt er sich am Geländer, da er den knarzenden Treppenstufen nicht so recht traute. Tina folgte hinter ihm, eine Hand auf seine Schulter gelegt und dirigierte ihn damit durch den Durchgang zur rechten des Treppenendes. Hier lagen in Regalen fein säuberlich gestapelt Lebensmittel und sonstiger Hausrat auf Vorrat. Gegenüber der Öffnung war ein weiterer Durchgang, allerdings durch eine massive hölzerne Türe verschlossen.

„Dahinter muss es sein, hier der Schlüssel!“, Tina drückte Andi diesen in die Hand. Der leuchtete mit der Taschenlampe auf das Schloss ohne Griff und führte den Schlüssel zitternd in das Schlüsselloch ein. Vorsichtig bewegte er ihn abwechselnd nach rechts und links, bis er Widerstand spürte und nach weiterem Druck ein knacken hörte. Langsam schwang die Tür nach innen auf, hinein in den dahinter verborgenen dunklen Raum. Ein kalter Luftzug entwich durch den Türspalt und ließ beide frösteln. Was würde sie dort erwarten?

Andi trat dicht gefolgt von Tina ein. Da er auf den Boden leuchtete und behutsam einen Fuß vor den anderen setzte, entging seiner Aufmerksamkeit die etwas hellere Rutsche, die von einer Klappe unter der Decke der Außenwand zur rechten herabführte.

„Hier muss es sein. Diese Rutsche hat sie den Eindringling runter geschubst!“, sagte Tina mit vor Aufregung zitternder Stimme. Brummelnd drehte sich Andi herum und leuchtete die Rutsche an. Sie endete einen Meter über dem Boden. Darunter sollte eigentlich ein Auffangbehälter stehen. Doch dieser fehlte!

Tina, bedacht darauf in der Türe stehen zu bleiben, damit diese nicht zufallen konnte, drehte Andi an seinen breiten Schultern langsam herum, so dass der Lichtstrahl der Taschenlampe durch den Raum wanderte. Vor ihnen war nur gemauerte Wand, doch dann zur linken eine Schütte aus massivem Holz, gefüllt mit Eierkohlen, wie sie früher zum Heizen des Kohleofens genutzt wurden. Wozu hatte sie die aufbewahrt, ging Tina durch den Kopf, das Haus hatte doch bereits in den Achtzigern eine modernere Heizung erhalten; lange vor Tinas Geburt!

„Darunter muss es sein“, flüsterte Tina. Eine unbestimmte Angst zwang sie dazu leise zu sein, um das Gespenst aus ihrer Kindheit nicht zu wecken. Andi reichte ihr die Taschenlampe nach hinten und ergriff die Kante der Schütte. Zuerst weigerte sie sich ihm nachzugeben, dann ruckelte sie und rollte quietschend auf ihn zu. Er wich ihr aus und zog sie vorbei an sich und Tina unter die Rutsche. Mit einem dumpfen Knall kam sie an der Wand zu stehen. Tina schwenkte den Lichtstrahl auf den frei gewordenen Boden. Unter dem Staub war ein rechteckiger Umriss zu erkennen. Dazu ein Riegel und ein massiver Eisenring um etwas anzuheben. Tina stupste Andi an und dieser kniete davor nieder und wischte mit den Händen den Belag weg. Staub stieg auf brachte beide zum Niesen und nahm ihnen die Sicht. Es dauerte ein

gefühlte Ewigkeit, bis sich der Staub legte und im Schein der Taschenlampe ein hölzerne, aber massiv mit Eisen beschlagene Falltür sichtbar wurde. Andi rüttelte an dem Riegel, bis dieser nachgab. Dann ergriff er den Eisenring, schaute aber auf zu Tina. Diese biss sich vor Angst auf die Lippe, nickte ihm aber auffordernd zu. Da wuchtete er die Türe hoch und lehnte sie, dabei aufstehend gegen die Rückwand des Raumes. Tina, die an ihm vorbei linste sah zuerst, was unter der Türe war und stieß einen spitzen Schrei aus: Dürre krallenbewehrte Finger, dahinter ein schwarzgekleidete Gestalt, mit ausgetrockneten blassen Gesichtszügen. Eine von der kalten Luft getrocknete männliche Leiche, der schwarze Mann aus Tinas Alptraum!

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