2. Platz

Murnaus letzter Einsatz

Petra Spielberg

Murnau faltet die Tageszeitung zusammen und streicht mit der Handkante über den Falz. Es wird Zeit, dass er sich auf den Weg macht. Er steht auf und knipst die kleine Lampe auf dem Beistelltisch aus. Der dicht gewebte Stoff der Gardinen lässt selbst im Sommer nur wenig Tageslicht herein. Murnau ist das nur recht. Auf die neugierigen Blicke der Nachbarn kann er gut verzichten. Bevor er hinter dem schweren Eichentisch hervorkommt, dreht er sich noch einmal um und richtet die bestickten Kissen auf der zerschlissenen Couch.

»Komm Bruno«, sagt er zu seinem Schäferhund und fordert ihn mit einer Handbewegung auf, aufzustehen.

Mühsam rappelt sich der alte, fast taube Rüde hoch und schlurft hinter ihm her.

Vor dem Garderobenspiegel bleibt Murnau stehen, streicht über sein schütter gewordenes Haar, nimmt seine Jacke vom Haken und verlässt das Haus – pünktlich um sieben, wie immer.

»Morgen Walter, geht’s wie üblich auf Tour?« Erwin von gegenüber steht am Briefkasten und winkt Murnau zu. Sein gestreifter Morgenmantel lässt den Blick auf seine grau behaarte Brust frei.

»Morgen«, brummt Murnau und nickt knapp. Bloß nicht stehenbleiben, denkt er, sonst zwingt dir das alte Schwatzmaul wieder ein Gespräch auf.

Er hilft Bruno beim Einsteigen in seinen Geländewagen, startet den Motor und fährt über den Geißberg in südöstlicher Richtung. Sein erster Kontrollgang gilt, wie an jedem Morgen, den Streuobstwiesen, die sich rund um den Glockenrain und entlang der Gersprenz erstrecken. Auf einem Wanderparkplatz im Naturschutzgebiet Scheelhecke hält er an und lässt Bruno aus dem Wagen. Vogelgezwitscher empfängt sie und die Luft ist herrlich klar. Murnau und Bruno lassen das Feuchtbiotop hinter sich und marschieren im Uhrzeigersinn los.

Als sie die Gersprenz überqueren, sieht Murnau gerade noch, wie ein Biber von der Uferböschung ins Wasser gleitet. Die Abwasserbelastungen in dem Flüsschen sind seit dem Ausbau der Kläranlage vor einigen Jahren deutlich zurückgegangen. Seither sind zu seiner Freude zahllose der kleinen Unterwasserbaumeister an der Gersprenz wieder heimisch geworden.

Nach einigen Gehminuten passieren sie den russischen Soldatenfriedehof, auf dem die Gebeine von mehr als 400 Kriegsgefangenen der Roten Armee verscharrt sind, die zwischen 1941 und 1945 unter teils mysteriösen Umständen in einem nahegelegenen Lazarett gestorben sind. Zwei Männer, die die Gedenkstätte verlassen, kommen schweigend auf Murnau und Bruno zu.

Schwer lastet die dunkle Vergangenheit auch auf Murnaus Familie. Aus Erzählungen

seiner Mutter weiß Murnau nur, dass sein Großvater, dem er alten Fotos nach verblüffend ähnlich sieht, als Mitglied der Waffen-SS dort seine Dienste verrichtet hat. Mehr weiß er nicht. Denn über das, was sich im Lazarett abgespielt hat, wurde in seiner Familie stets Stillschweigen gewahrt. »Lass die Vergangenheit ruhen«, hieß es immer, wenn jemand nachzufragen wagte. Verstohlen beäugt Murnau die beiden Friedhofsbesucher. Der Alte scheint nicht gut beieinander. In Trippelschritten und mit gebeugtem Rücken bewegt er sich vorwärts, gestützt von seinem jüngeren Begleiter. Die Nase des Alten ist knollig verdickt und von einem Netz aus feinen roten Adern überzogen. Sein Blick glasig. Als die beiden auf seiner Höhe sind, wendet der Alte Murnau plötzlich sein Gesicht zu. Sein zahnloser Mund öffnet sich wie zu einem stummen Vorwurf, während er seinen knotigen Zeigefinger auf Murnau richtet. Murnau glaubt, so etwas wie Hass in den Pupillen des Alten aufflackern zu sehen. Unwillkürlich richten sich die Haare auf seinen Armen auf.

Der Jüngere sieht fragend von einem zum anderen, murmelt schließlich etwas auf Russisch in sein kantiges Kinn und zieht den Alten mit sich fort. Eilig läuft Murnau weiter, ohne sich umzuschauen. Schon bald erstreckt sich vor seinen Augen das saftige Grün der Streuobstwiesen, auf denen allerlei Arten von Früchten gedeihen. Erfreut betrachtet er die tiefhängenden Zweige der Kirschbäume, die dieses Jahr besonders schwer an ihrer blutroten Last zu tragen haben.

Plötzlich bleibt Bruno stehen und hebt schwerfällig den Kopf. Murnau führt das Fernglas vor seine Augen und entdeckt in einiger Entfernung einen Mann, der Händeweise Obst von einem Kirschbaum pflückt. Na warte, denkt Murnau und läuft schnurstracks auf ihn zu.

»Hey, was machen Sie da?«, ruft er, sobald er in Hörweite ist.

Erschrocken wendet der Ertappte sich um.

»Du schon wieder!«, brüllt Murnau, als er ihn erkennt. »Verdammt, Lars, ich habe dir doch gesagt, dass du deine Dreckspfoten von den Kirschen lassen sollst«, keucht er, während er weiter rennt.

Doch der Angesprochene schultert bereits seinen Rucksack voller Diebesgut, schnappt sich das Fahrrad, das am Fuße des Baums liegt, und schwingt sich in die Pedale. Mit einem hämischen Grinsen schaut er sich um und lässt seinen linken Mittelfinger nach oben schnellen.

»Ja, hau nur ab, du, . . ., du. . .«, schreit Murnau ihm hinterher und fuchtelt wild mit dem Zeigfinger durch die Luft. »Diesmal kommst du mir jedoch nicht ungeschoren davon, das schwöre ich dir.« Schwer atmend bleibt er stehen. »Verfluchter Mistkerl«, schimpft er. Als er Lars Schiller vor wenigen Tagen das erste Mal beim Obstklauen erwischt hat, hat er gnädiger Weise ein Auge zugedrückt, weil er weiß, dass eine Strafanzeige Lars die Lehrstelle kosten wird. Aber jetzt reicht es! Er beschließt, gleich heute Mittag zur Polizei zu gehen.

Verärgert setzt er seinen Rundgang fort. Auf dem Rückweg sieht er, wie ein weißer Lieferwagen über einen der Wirtschaftswege fährt. Das Auto ist ihm fremd. Als der Wagen Halt macht, schleicht sich Murnau im Schutz einer Hecke mit Bruno näher heran.

Nur wenige Sekunden später öffnen sich die Vordertüren und ein Pärchen steigt aus. Suchend blickt die Frau sich um, während der Mann ans Heck des Wagens geht und die Klappe öffnet.

Murnau staunt nicht schlecht, als der Mann drei Stühle, ein altes Fahrrad, einen Fernseher, zwei Autoreifen, diversen undefinierbaren Plastikmüll und mehrere, prall gefüllte blaue Säcke achtlos in die Landschaft wirft. Fassungslos schüttelt er den Kopf und notiert sich in dem kleinen Notizblock, den er mit sich führt, das Kennzeichen. Dann verlässt er seinen Beobachtungsposten.

»Guten Tag, die Herrschaften! Dürfte ich erfahren, was Sie hier machen?«

Die Frau erstarrt zur Salzsäule, während der Mann unverschämt grinst. Keiner der beiden sagt ein Wort.

Aus dem Müllhaufen steigt Murnau der Geruch von Altöl in die Nase. »Ich nehme an, Sie wissen, dass das Entsorgen von Müll in die Natur illegal ist«, sagt er und weist auf den Unrat. »Ihr Kennzeichen habe ich mir bereits notiert.« Er wedelt mit dem Notizblock. »Außerdem haben Sie sich der unberechtigten Nutzung von Wirtschaftswegen schuldig gemacht. Machen Sie sich also auf ein saftiges Bußgeld gefasst.«

»Sagt wer?«, fragt der Mann. Kurz gleitet sein Blick an Murnau vorbei. Er macht zwei Schritte zur Seite und ein maliziöses Lächeln umspielt seine schmalen Lippen.

»Walter Murnau, mein Name. Ich arbeite als Feldschütz für die Gemeinde Groß-Zimmern und bin dafür verantwortlich, dass hier Recht und Ordnung herrschen. Und nun sammeln Sie Ihren Müll gefälligst wieder ein und verschwinden.«

Murnau streckt die Brust raus und reckt das Kinn. Dann verspürt er urplötzlich einen brennenden Schmerz in der Herzgegend und es wird dunkel um ihn herum.

***

»Mensch, Lars, wie konntest du so blöd sein, dich schon wieder von dem Feldschützen erwischen zu lassen. Wenn der dich anzeigt, bist du deinen Job quitt und kannst dich arbeitslos melden. Als Vorbestrafter findest du bestimmt keine neue Stelle mehr.« Miriam muss sich auf die Zehenspitzen stellen, um ihrem Freund die Worte ins Ohr zu brüllen. Die Musik der Live-Band, die vor dem Glöckelchen ein Open-air-Konzert gibt, ist höllisch laut und der kleine kopfsteingepflasterte Vorplatz des Kulturzentrums gerammelt voll mit Leuten. Heiß brennt die Sonne vom Himmel und Miriam schwitzt wie verrückt zwischen all den Leibern.

»Ja, und«, prustet Lars verächtlich. »Der Alte kann mich mal.« Er schließt die Augen und wippt mit dem Oberkörper zum Takt der Musik.

»Sag mal, ist dir das etwa scheißegal?« Genervt fährt sich Miriam durch ihre blonde

Mähne. Sie liebt Lars. Er sieht umwerfend aus mit seinen schwarzen Haaren, den dunklen Augen und der gebräunten Haut. Aber sein Hang zur Kleinkriminalität geht ihr gehörig auf den Geist. Sie hat auf einmal überhaupt keinen Bock mehr, bei Lars zu übernachten. Aber um zurück nach Dieburg zu kommen, müsste sie entweder per Anhalter fahren oder sich mit dem Taxi bis nach Groß-Umstadt kutschieren lassen, da sie kein Auto hat und es in Groß-Zimmern keinen Bahnhof gibt. Und darauf hat sie noch viel weniger Bock. Schweren Herzens beschließt sie daher, zu bleiben.

»Jetzt beruhige dich mal«, sagt Lars, »ich habe die Sache im Griff, glaub‘ mir.« Er zieht Miriam an sich und versucht, ihr einen Kuss auf den Mund zu drücken. Mürrisch wendet sie sich ab.

Geraume Zeit später laufen die beiden die Wilhelm-Leuschner-Straße herunter. Das Konzert ist aus. Miriam ist nach wie vor mies gelaunt. Aber sie hat Hunger und sich deshalb von Lars dazu überreden lassen, in der Alten Poststubb noch ein Hinkelsche essen zu gehen. Im Gegenzug musste er ihr versprechen, morgen mit ihr ein Picknick an der Birkenruhe zu machen. Sie hofft, ihm dort noch einmal kräftig ins Gewissen reden zu können.

Am Eingang der Gaststätte versperren ihnen zwei Männer den Weg. Der ältere von beiden torkelt bedenklich und rempelt Lars an, während der Jüngere erregt auf den Greis einredet.

»Hey, passt doch auf, ihr scheiß Russenköppe«, flucht Lars und sieht den beiden abschätzig hinterher.

***

»Warum können wir nicht einmal machen, was ich will?« Miriam hat beschissen geschlafen und ist stinksauer, weil Lars es sich unterwegs anders überlegt hat und entgegen seinem Versprechen nun doch nicht mit ihr zur Birkenruhe fährt. Stattdessen brettern sie in seinem Polo über die Landstraße Richtung Spachbrücken, weil Lars findet, dass es viel geiler ist, an der Schneemühle zu picknicken.

»Was meinst du, was an der Birkenruhe an einem Samstagmittag los ist bei dem Wetter«, sagt er. »An der alten Schneemühle sind wir bestimmt unter uns.« Er wirft ihr ein entwaffnendes Lächeln zu.

»Arschloch«, murmelt Miriam, muss ihm insgeheim aber recht geben.

Eine Viertelstunde später sind sie da. Doch anders als erwartet, sind sie nicht allein. Ein zerbeulter, rostiger alter Lada parkt bereits vor dem historischen Fachwerkbau.

»So, so, hier sind wir also unter uns«, feixt Miriam und zieht eine Grimasse.

»Wart‘ doch mal. So wie die Karre aussieht, hat die vielleicht jemand hier entsorgt«, sagt Lars. »Bleib du erstmal im Auto, ich geh‘ gucken.«

Er stellt seinen Polo in einiger Entfernung ab, steigt aus und geht zur Mühle. Miriam schaut ihm hinterher und kaut gelangweilt auf ihrem Kaugummi.

Mit der Hand über den Augenbrauen inspiziert Lars das Innere des Wagens. Nichts. Er schleicht weiter um das Fahrzeug herum. Als er am Kofferraum vorbeikommt, schlägt ihm ein seltsam süßlicher Geruch entgegen. Was für ein ekliger Gestank, denkt er und drückt auf gut Glück auf den Verriegelungsknopf. Zu seiner Überraschung springt die Heckklappe auf. Lars wirft einen Blick in den Laderaum, schnappt nach Luft und macht gleichzeitig einen Satz zurück.

Murnau. Sein Blick starr. Sein Hemd ein blutig roter Lappen.

Im selben Moment hört Lars, wie Miriam einen schrillen Schrei ausstößt. Er wirbelt herum und blickt geradewegs in den Lauf einer Makarov.

»Aber . . ., was . . .?«, stammelt er, während ihm das Blut in den Adern gefriert.

»Weg von Auto!«, brüllt der Russe.

»Nicht schießen!« Lars reißt instinktiv die Arme hoch und taumelt ein paar Schritte rückwärts. Er fällt. Krabbelt auf allen Vieren davon. Rappelt sich auf. Fällt erneut.

Bevor er ein weiteres Mal hochkommen kann, steht der Russe über ihm und drückt ihm die Pistole an die Schläfe. Lars erkennt in ihm plötzlich den Jüngeren der beiden Männer wieder, die ihm und Miriam gestern Abend im Eingang der Alten Poststubb begegnet sind. Aus den Augenwinkeln sieht er, wie der Greis Miriam gleichfalls mit einer Waffe in Schach hält.

»Du sterben und Freundin auch.« Der Russe macht eine Kopfbewegung Richtung Auto.

Lars ignoriert Miriams verzweifeltes Schluchzen. Er nimmt all seinen Mut zusammen und fragt: »Was soll das? Was haben Sie mit Murnau gemacht?« Seine Stimme zittert.

»Grosse Vatter von Murnau hat getötet meine Grosse Vatter in Lazarett 1943.«

»Aber was kann Murnau dafür? Er war doch damals noch ein Kind.«

»Sache von Familienehre«, erwidert der Russe und spannt den Hahn.

ENDE

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