1. Platz

What a difference a day makes …

Anke Elsner

Kaum ein Ton drang durch die kalte Nachtluft, nicht einmal ein Käuzchen stieß seinen unheimlichen Schrei in das Dunkel. Etwas Schreckliches würde passieren. Der Tod lauerte bereits im Hintergrund. Zitternd schaute sie sich um. Was für ein gespenstischer Treffpunkt. Ihr war keine Wahl geblieben. Der Anrufer hatte die verschiedenen Stationen vorgegeben. Diese sollte die letzte sein. Wahrscheinlich brauchte er die Gewissheit, dass ihr niemand folgte oder wollte lediglich seine Macht demonstrieren. Plötzlich ging ihr ein Lied durch den Kopf: „What a difference a day makes …“ Warum es gerade dieser Oldie sein musste, wusste sie auch nicht, vielleicht hörte sie zu oft hr4. Jedenfalls passte es diesmal perfekt. Dieser eine Tag machte einen enormen Unterschied.

Neben ihr plätscherte leise die Gersprenz, deren Wiesen sich an dieser Stelle bis an den Glockenrain ausbreiteten. Wie gerne wäre sie statt in der Kälte zu stehen zu der Veranstaltung ins „Glöckelchen“ gegangen. „De Zug kimmt“, ein Rückblick auf die 125-jährige Geschichte des Bahnhofs in Groß-Zimmern, – was für ein interessantes Thema. Die Eintrittskarte, ein Nachdruck einer Originalrückfahrkarte von 1956, steckte immer noch in der großen Handtasche, neben einigen anderen Utensilien.

Der aufkommende Wind ließ sie noch mehr frösteln. Diese verdammte Eintrittskarte. Gestern Morgen schien alles so einfach. In der Geldkassette ihres Chefs befanden sich etwa 8000 €, Handgeld für besondere Ausgaben, wie er es nannte. Die Summe schwankte immer zwischen 1000 € und 10.000 € und wurde erst Ende des Monats verrechnet. Da sich ihr Konto wieder einmal im Minus befand, folgte sie der Macht der Gewohnheit und nahm sich ein paar Hunderter heraus. Die Eintrittskarte hatte zwar nur 10 € gekostet, aber eine neue Hose und eine dezente Jacke würden den Abend noch aufwerten.

Irgendwie sah sie in diesen gelegentlichen „Geldabzweigungen“ nur eine ausgleichende Gerechtigkeit; denn wegen ihrer Arbeitsbelastung fehlte die Zeit für ein ausgefülltes Privatleben. Da blieb dann nicht viel übrig, was Spaß machte; und Spaß machten die Besuche in der Spielhalle wirklich, auch wenn die Verluste überwogen. Außerdem hätte ihr Chef ja etwas misstrauischer sein können. Doch selbst dann wäre er wahrscheinlich nicht auf die Idee gekommen, seine treue Buchhalterin des Diebstahls zu bezichtigen. Noch beim letzten Betriebsausflug in die Scheelhecke, diesem einzigartigen Naturschutzgebiet zwischen Landwehrgraben, Gersprenz und Hirschbach, hatte er ihr freundlich auf die Schulter geklopft und gemeint: „Sie sind die Perle des Betriebs. Wenn Sie etwas machen, dann machen Sie es 100-prozentig. Sie sind die perfekte Mitarbeiterin. Bewundernswert.“ Er vertraute ihr blind.

Natürlich war ihr bewusst, dass auch ihr biederes Äußeres keine Gedanken an etwaige Unehrlichkeiten zuließ. Wenn sie in den Spiegel schaute, blickte ihr eine 60-Jährige mittelgroße Frau entgegen, deren kurz geschnittene graue Haare ein schmales unauffälliges Gesicht umrahmten. Die große Brille verlieh ihr ein gelehrtes Aussehen, das durch die langweilige jedoch

kostspielige Kleidung noch unterstrichen wurde. Niemand traute ihr etwas anderes zu als fehlerlose Rechtschaffenheit.

Deshalb sah sie für sich auch keine Gefahr darin, immer wieder kleinere oder auch größere Summen zu entwenden. Als Buchhalterin des Betriebs konnte sie bisher jedes Mal alles vertuschen. Die Fehlbeträge in der sogenannten Handkasse wurden am Monatsende durch gefälschte Rechnungen ausgeglichen. Nie hatte es Probleme gegeben. Doch dann …

Mit Schaudern dachte sie an den Anruf zurück. Sie hatte in der Mittagspause nach einem leckeren Ebbelwoi-Hinkelsche bei ihrer Schwester, die auf dem Geißberg wohnte, noch einen kurzen Spaziergang an der Schneemühle entlang gemacht und war gerade in ihr Büro gekommen, als das Firmentelefon auf dem Schreibtisch klingelte. Sobald sie abgehoben hatte, tönte eine heisere Stimme aus dem Hörer: „Ich weiß, was du getan hast. Denk bloß nicht, dass du damit durchkommst. Es sei denn, du gibst mir einen Teil von deiner Knete ab. Für den Anfang würden mir 5000 € reichen. Du weißt ja, wie du die kriegst. Komm heute Abend um 8 zum Glockenrain. Dort auf der Wiese steht ein Storchennestständer. Warte da, bis ich dich anrufe.“ Danach nur noch ein Klicken. Vollkommen perplex starrte sie auf den Hörer in ihrer Hand. Was sollte das?

Panik erfasste sie, als sie realisierte, was soeben passiert war: Jemand hatte ihre Diebstähle entdeckt und erpresste sie. Ihr stockte der Atem und die Knie begannen zu zittern. Langsam sank sie auf den Stuhl. Sollte sie zur Polizei gehen? Unmöglich, niemand im Ort würde sie danach noch eines Blickes würdigen. Ihre ganze Familie konnte sich dann nie wieder in den Geschäften sehen lassen. Sie erinnerte sich noch genau, wie eine Nachbarin einmal zufällig beim Diebstahl im Supermarkt erwischt worden war … die Frau und alle Angehörigen lebten jetzt notgedrungen in einer anderen Stadt. Also gab es nur eine Möglichkeit: zahlen. Natürlich wusste sie aus etlichen Krimiserien, wie es anschließend weiterging … immer neue Forderungen …Doch gab es eine andere Alternative? Sie seufzte tief auf und öffnete den kleinen Wandtresor, um dort erneut in die Kassette zu greifen. Was sie sich diesmal am Monatsende einfallen lassen würde, wusste sie noch nicht, aber es war ja noch Zeit zu überlegen.

Am Abend machte sie sich rechtzeitig auf den Weg. Es dunkelte bereits, als sie ihr Auto abstellte, um sich über die Wiese langsam dem Storchennestständer zu nähern. Dort angekommen, schaute sie suchend umher. Was jetzt? Plötzlich ertönte ein leises Klingelzeichen. Da, unten im Gras lag ein Handy, eins von diesen kleinen Dingern, mit denen man nur telefonieren konnte. Vorsichtig drückte sie den Knopf und hielt es ans Ohr: „Hallo?“ Ein heiseres Flüstern antwortete: „Fahr jetzt sofort zur Birkenruh. Dort steigst du aus und gehst direkt zur verfallenen Freizeithütte. Unten links am Eingang findest du die nächste Anweisung.“ Ein Klicken und die Verbindung war unterbrochen. Auf einmal streifte ein eisiger Windhauch ihren Kopf. Sie fuhr zusammen. Der Tod, nur der Tod konnte eine derartige Kälte verbreiten. Hastig rannte sie zurück zu ihrem Auto. Schnell das Ganze hinter sich bringen.

Nachdem sie den Wagen auf dem Waldparkplatz abgestellt hatte, schlug sie die Richtung zur Freizeithütte ein. Glücklicherweise spendete ihre Taschenlampe genügend Licht; mittlerweile hatte die Nacht bereits die Dämmerung abgelöst. Sie seufzte tief, als das Ziel endlich in Sicht kam. Mit schnellen Schritten näherte sie sich dem Eingang und ging sofort in die Hocke, um nach dem nächsten Hinweis zu suchen. Da – unter dem kleinen Stein blitzte etwas Weißes hervor. Hektisch griff sie nach dem Papier: „Fahr jetzt zur Gersprenz. Wir treffen uns an der Stelle, an der sich die große Biberburg befindet, über die die Zeitung gestern geschrieben hat. Und kein Licht.“ Sie wusste sofort, welche Stelle der Erpresser meinte. Endlich würde er sich zeigen. Ein Zittern durchlief ihren Körper. Jetzt nur nicht aufgeben, eine letzte Anstrengung, dann wär das Problem erst einmal gelöst.

Und nun stand sie am vereinbarten Treffpunkt. Selbst im Dunkeln konnte man die Umrisse der mächtigen Biberburg erkennen. Ob die Tiere schliefen? Oder beobachteten sie aufmerksam die Umgebung, um sofort Alarm zu schlagen, wenn Gefahr drohte? In dem Fall hätten sie sich jetzt bemerkbar machen müssen. Doch kaum ein Ton drang durch die kalte Nachtluft, nicht einmal ein Käuzchen stieß seinen unheimlichen Schrei in das Dunkel. Ihr Gefühl sagte ihr: Etwas Schreckliches wird gleich passieren. Der Tod wartete. Die Erpressung würde nicht das Schlimmste sein. Zitternd schaute sie sich um. Was für ein gespenstischer Treffpunkt. Wieder vernahm sie ein leises Plätschern. Sie liebte das Gewässer, auch wenn sie erst kürzlich irgendwo gelesen hatte, dass immer noch nicht abbaubare chemische Verbindungen über die Kläranlage in den Fluss gelangten. Trotzdem roch es nie unangenehm und alle hofften, dass sich die Qualität des Wassers irgendwann überall so weit verbessern würde, dass sich noch mehr Fische ansiedelten. Vielleicht konnte man in ferner Zukunft auch in der Gersprenz schwimmen und … Ihre Gedanken schweiften ab. Sie wollte sich nicht dem Unvermeidlichen stellen, der Bedrohung.

Jetzt näherten sich leise Schritte. Eine dunkle Gestalt trat dicht an sie heran. Schwarz gekleidet, das Gesicht hinter einer Sturmhaube versteckt, konnte man nur undeutlich sehen, wo sich die Sehschlitze befanden. Kein Ton war zu hören, lediglich eine behandschuhte Hand streckte sich ihr auffordernd entgegen. Sie nickte und schlug die Augen nieder. Selbst in dieser Finsternis waren die Augen die Spiegel der Seele, und man konnte ja nie wissen … Sie griff in ihre große Handtasche. Da war es. Es musste sein. Blitzschnell, so wie sie es zu Hause mehrmals geübt hatte, zog sie das lange Messer heraus und stach es mit voller Wucht in die Brust ihres Gegenübers, genau an die Stelle, wo das Herz sitzen musste.

Ein dumpfes Stöhnen zeigte, dass sie auf alle Fälle irgendetwas getroffen hatte. Langsam sank der Mann zusammen und lag regungslos auf dem Boden. Ruhe, eine herrliche Ruhe durchflutete ihren Körper. Geschafft. Vorsichtig tastete sie nach dem Puls – nichts. Ein kurzer Griff in die Taschen förderte zwei Handys zutage. Bedächtig steckte sie die beiden ein; zu Hause wartete schon ein Hammer. Auch das Messer wanderte zurück in die Handtasche. Schließlich rollte sie die Gestalt vorsichtig über die Böschung, direkt neben der Biberburg. Ein lautes Platschen durchbrach die Stille, dann kehrte wieder Ruhe ein. Wo immer die Leiche hintreiben würde – die Identität

war für sie ohne jegliches Interesse – niemand konnte den Vermummten mit ihr in Verbindung bringen; denn wenn sie etwas machte, dann machte sie es 100-prozentig. Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie sich dabei ertappte, wie sie leise vor sich hin summte: „What a difference a day makes…“ In ihrem Fall traf das gerade wirklich zu, nur würde niemand außer ihr selbst etwas davon bemerken.

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